Eine fixe Idee im Zwielicht

Im Dunklen fleißig Arbeiten – Das Making of zu Ben Vogt klärt einiges über Albträume, München und die Welt des Protagonisten

Im Dunklen fleißig Arbeiten – Das Making of zu Ben Vogt klärt einiges über Albträume, München und die Welt des Protagonisten

Eine fixe Idee im Zwielicht

Eines Tages, es war Mitte September 2012, ging ich von der Arbeit nach Hause. Ein feiner Hochnebel lag in der Luft, was in München nicht oft vorkommt. Dadurch brachte die Sonne nicht die Kraft auf, sich ihren Weg zum Boden zu erkämpfen; sie stand als ausfransende, dünn-gelbliche Sonnenscheibe knapp über den Häusern. Nirgendwo sah ich Schatten. Ich stand, einige Stunden zu früh, im Zwielicht.

Zwielicht, das ist ja seit jeher unheimlich und unheimlich faszinierend. Scharfe Kanten verschwinden, dadurch gewinnen Häuser und Straßenschilder etwas Weiches, als wären sie gemalt. Gleichzeitig wird die Welt blass und konturlos, weil jede Tiefe verschwindet. In dieser irgendwie entrückten Welt stand ich, und da fiel mir auf, dass ich nirgendwo Menschen sah. Es war ein ganz stiller, beklemmender Moment. Ich kam mir vor, als wäre unbemerkt die Apokalypse vorbeigekommen, hätte auf der Welt alles außer mir weggepflückt und wäre danach einfach wieder verschwunden. Ich wusste, dass dieser düstere Zauber und die Einsamkeit, die ich empfand, etwas sehr Zerbrechliches war. Die ganz normale Welt konnte jederzeit zurückkommen, es musste nur ein Kind über den Gehweg rennen, ein Auto hinter mir vorbeifahren oder doch ein kleiner Sonnenstrahl den Weg durch den Dunst zu mir finden.

Das war ein tolles Ereignis. Ich konnte mich für ganz kurze Zeit gruseln und wusste: Gleich ist es vorbei. Aber ich hatte da auch eine fixe Idee. Ich fragte mich, was wäre, wenn das nicht mehr aufhörte. Wenn kein Kind vorbeikäme, kein Auto vorbeifuhr oder die Sonne nicht mehr rauskommen könnte. Und dann fiel mir auf, was ich noch viel schlimmer gefunden hätte: Wenn Kind und Auto und Sonne zurückgekommen wären – aber sie hätten mich nicht mehr bemerkt.

Der Nebel zog vor die tief stehende Novembersonne und dämpfte ihr Licht. Er fraß Auto um Auto, verschlang Seitengassen und Häuserfronten, hinter mir quoll er über die Straße. So schnitt er mir langsam jede Rückzugsmöglichkeit ab. Es erstaunte mich, wie gleichgültig mir das war.
[…]
Vom Ende der Straße schallte mir das Gelächter von Teenagern entgegen. Ein blondes Mädchen rannte in einer gefütterten Sportjacke hinter der Ecke hervor, stoppte einen Fußball und verschwand wieder. Sie und ihre Freunde würden dann wohl die letzten Menschen sein, die ich noch traf. Natürlich sahen oder hörten sie mich nicht.

Aus: Ben Vogt: Hexenjagd

Ein Albtraum klammert sich fest

Gelegentlich kommt ein Angsttraum, ohne wieder zu gehen

Einige Monate vorher hatte mich ein heftiger Albtraum gequält. Bei mir ist es mit Albträumen so: Im Gegensatz zu meinem Protagonisten Ben Vogt werde ich von richtig starken Angstträumen im Wesentlichen verschont. Aber wenn mich dann mal einer erwischt, ist er so heftig, dass ich mich oft sehr lange daran erinnere. So auch hier.

In der besagten Nacht träumte ich, ein Kind zu sein. Ich lag allein in meinem Bett, es war finster, und ich starrte vor mir die Bettdecke entlang. Ich wusste, dass in dem Raum noch etwas war. Ich hörte es über den Gang tapsen. Dann zupfte es an meiner Bettdecke, und schon saß es auf der Bettdecke, über meinen Füßen. Es war ein haariges, kleines Wesen mit großen Augen, einem Äffchen nicht unähnlich. Es hätte süß ausgesehen, hätten mir nicht seine Augen kalt und irgendwie unbeteiligt entgegengeblickt. Ich erstarrte, zog die Arme an mich, wollte es auf keinen Fall berühren. Es kroch näher, sein schwerer Körper lastete auf meinen Leisten, meinem Bauch, und dann saß es auf meiner Brust und starrte mich von oben herab an. Es starrte in etwa so, wie ich frühmorgens mein Frühstücksbrot anblicke. Es schnürte mir die Luft zu. Meine Beine – das einzige, was sich noch irgendwie bewegen konnte – begannen heftigst zu zittern.

Normalerweise entkomme ich schlechten Träumen, wenn ich will, einfach so, durch den bloßen Gedanken. Darum habe ich auch kaum Albträume, weil meistens genieße ich die Show, und wenn es mir zu krass wird, höre ich halt auf und erwache. Manche Träume halten mich fest, dann muss ich mich herauskämpfen. Dann spüre ich, warum sich der Begriff „Albtraum“ so schaurig anfühlt.

Johann Heinrich Füssli - Der Nachtmahr - eine von Albträumen geplagte Frau

Johann Heinrich Füssli – Der Nachtmahr – eine von Albträumen geplagte Frau

Anfangs fühlte sich der Angriff des Äffchens an wie letztere Gruppe. Die schweren Träume, die an einem ziehen, wenn man herausmöchte. Aber dann, ich spürte mich schon an der Oberfläche, zurück in der Wirklichkeit meines eigenen Bettes, unter meiner eigenen Decke, merkte ich, dass das Wesen immer noch auf mir saß. Ich war mir sicher, mindestens halb aus dem Traum zu sein. Ich sah meinen eigenen Schlafzimmerschrank. Ich spürte meine eigenen Beine unter der Bettdecke zittern. Aber gleichzeitig war ich noch dieses Kind, saß immer noch dieses Wesen im Traum auf meiner Brust und blickte mich an. Ich war gleichzeitig drinnen und draußen, zitterte, bekam kaum Luft, und wusste: Ich hatte den Rand meiner Möglichkeiten erreicht. Ich hatte keine Kraft, dem Wesen zu entkommen.

Hilfe von außen ist nicht schlecht

In dem Moment berührte mich meine Frau, und das Wesen verschwand. Ich schrie auf, meine Frau zuckte erschrocken zurück und schrie vor Schreck, was mich wiederum so erschreckte, dass ich noch einmal aufschrie. Wie in einer dieser fröhlichen, oberflächlichen Komödien. Nachdem wir uns beide von dem Schreck erholt hatten, mussten wir dementsprechend auch recht lachen.

Wer sich viel mit Mythologie beschäftigt, weiß wahrscheinlich seit dem ersten Satz, worum es geht, und kennt die Geschichte. Sogenannte „Nachtalben“ sind in unserer europäischen Mythologie kleine Wesen, die Albträume bringen, indem sie sich ihren schlafenden Opfern auf die Brust setzen. Eine Beschreibung findet sich auf Wikipedia, dort haben sie auch einen Scan des Bilds Der Nachtmar von Heinrich Füssli in den Commons, das ich in diesem Artikel zur Illustration verwendet habe. Diese Wesen, zu denen man heute oft „Nachtalb“ sagt, hießen früher „Nachtmahr“ oder einfach nur „Mahr“, vom altgermanischen „mara“. Man findet es heute noch im englischen Wort für Albtraum, „nightmare“. So klein ist die Welt.

Ich kannte die Geschichte und konnte das Wesen auch schon im Traum richtig identifizieren. Geholfen hat es mir allerdings nichts.

Ideen im Mixer: Der Tagmahr stellt sich vor

Traumwesen in Gedanken ...

Das Traumwesen ist nicht mehr zu mir zurückgekommen, aber in der Folgezeit hat es sicherlich meine Gedanken begleitet. Nach meinem oben beschriebenen Erlebnis im Zwielicht vermischten sich beide Ereignisse, und plötzlich hatte ich ein erstes Konzept. In diesem Konzept gab es noch keinen Ben Vogt, stattdessen entstand in meinen Notizen und Gedanken die Idee eines „Mahrs, der sich am Tag bewegt“.

Düsteres Märchen aus der Sicht des Mahrs, der sich in einem Straßenzug ansiedelt, worauf dieser verfällt. […] Die Leute um ihn fühlen sich [verfolgt], ohne zu wissen, was mit ihnen passiert.
Aus meinen Notizen, 24. September 2012, 22:38:40

Ein böses Wesen – aber reicht das?

Der Mahr sollte ein böses Wesen sein, wie das Äffchen in meinem Albtraum. Er sollte auch böse Dinge tun. Weil das alleine aber langweilig ist, wollte ich, dass er durch seine bösen Handlungen Gutes hervorruft. Zum Beispiel konnte der Mahr ein Verbrechen aufklären. Mir gefällt dieser Zwiespalt als Leser. Ein Bösewicht, der hilft: Das darf ich ja eigentlich nicht gut finden, gerade wenn seine Vorgehensweisen offenkundig verwerflich oder grausam sind. Aber wenn es doch was bringt? Oder einem guten Zweck dient?

Wir Menschen sind so. Wir tun böse, grausame Dinge, nicht nur im Krieg (der für die meisten von uns sehr weit weg ist), sondern im Alltag, wenn wir uns in unserer Beziehung, in der U-Bahn oder in der Arbeit behaupten. Da sind wir garstig zueinander, und erklären es uns damit, dass es ja der Wahrheit dient, oder dem Selbstschutz. Und böses Handeln ist doch gut, spätestens dann, wenn es einen verschwundenen Menschen rettet? Wie bei dem Polizisten, der dem Entführer Folter androht, damit der das Versteck seines Opfers verrät?

Mich interessieren die Antworten gar nicht. Die Welt ist viel zu kompliziert, um zu sagen, X ist (immer) gut, und Y ist (immer) böse. Eine trockene Gegenüberstellung von Argumenten wird dem Gewissenskonflikt doch gar nicht gerecht, den man schon bei Kleinigkeiten empfindet. Ich glaube, man macht sich immer schmutzig. Schon beim Abwägen der Alternativen, bevor man sich entschieden hat, erschrickt man über sich selbst, dass man gewisse Möglichkeiten nicht von vorne herein ausschließt. Ich mag diesen Zwiespalt. Ich finde, er macht uns menschlich.

So war mein Konzept beinahe perfekt. Ein böses, in Träumen herumberserkerndes Wesen. Es empfindet kein Mitleid, hat aber einen abstrakten Gerechtigkeitssinn. Und dann hält es Menschen im Grunde für Marmeladenbrote. Mir als Leser werden Horror und Gewissenskonflikte serviert.

Aber reicht das?

Dazu eine Prise Mensch: von »Der Tagmahr« zu »Ben Vogt«

Es hat dann einige Entwürfe gebraucht, bis mir auffiel, was ich noch spannender fand als dieses fremdartige Wesen. Nämlich einen jungen Mann, dem die Fähigkeiten und Bedürfnisse dieses Wesens aufgezwungen wurden. Der von den Albträumen, dem Hunger und der Aggression getrieben wird. Einem jungen Mann, der sich das nicht gewünscht hat, und jetzt irgendwie versucht, das Beste daraus zu machen. So wie Ben Vogt.

Spätestens seit der Besprechung heute Morgen hasste ich mein Leben. Was sollte das heißen, ich hätte ihm absichtlich die Nase gebrochen? Er hatte mich doch gereizt. Ich spielte die Szene im Kopf durch, sicherlich zum hundertsten Mal, während ich mich auf einen der freien Barhocker setzte und einen Energydrink bestellte, zuckerfrei bitte. […] Heute Nacht würde ich noch einige Energydrinks brauchen. Ich wollte mich wachhalten, denn in den letzten Tagen waren die Albträume wieder heftiger geworden.
Aus: Ben Vogt Hexenjagd

Wunderbar kleinbürgerlich! So geht es weiter ...

Ben Vogt: Hexenjagd ist eine münchnerische Geschichte. Warum, das erfährst du im nächsten Teil dieses Making Ofs, Münchner Kleinbürgertum trifft Sagenschatz.

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Making of Ben Vogt

Making Of Ben Vogt: Die Hintergründe zum Roman „Ben Vogt: Hexenjagd“ um den von Albträumen geplagten Geist Ben Vogt und die Hexe Laura.

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